Mystische Erfahrungen sind noch keine Selbst-Erkenntnis

Wenn du dich für Themen wie spirituelle Erleuchtung, spirituelles Erwachen oder wahre Selbst-Erkenntnis interessierst, wirst du im Internet auf eine gewaltige Menge an interessanten aber oft widersprüchlichen Informationen stoßen, die sehr verwirrend sein können.

Eine der größten Verwirrungen wird dabei dadurch erzeugt, dass manche Autoren die Meinung verbreiten, dass das höchste Ziel der spirituellen Reise, nämlich innere Freiheit und Friede, in einem außergewöhnlichen, höheren Bewusstseinszustand zu finden sei, der durch bestimmte spirituelle Übungen erreicht werden kann.

Andere dagegen behaupten, dass innere Freiheit und Friede bereits Aspekte unseres natürlichen Zustands seien, der völlig unspektakulär ist und immer schon gegenwärtig. Und dass wir diese Tatsache nur erkennen müssen.

Es geht also um die Frage, ob vollkommener innerer Friede und Freiheit das Ergebnis von spirituellen Übungen sind oder nur eine Frage der Erkenntnis. Und genau diese Frage spiegelt sich in den verschiedenen spirituellen Traditionen wider, von denen sich manche dem Pfad des Handelns verschrieben haben, manche dem Pfad der Erkenntnis und andere einer Mischung aus beiden Ansätzen.

In diesem Artikel möchte ich dieser Frage nachgehen und hierfür den Unterschied zwischen mystischen Erfahrungen und Selbst-Erkenntnis beleuchten.

1. Der Pfad des Handelns und der mystischen Erfahrungen

Der Pfad des Handelns und der mystischen Erfahrungen wird in Indien vom Pfad des Yoga repräsentiert. Den entsprechenden Überblick dazu geben die Yoga Sutras von Patanjali. Patanjali beschreibt einen achtstufigen Pfad, der zur vollkommenen Harmonisierung der Persönlichkeit und letztlich zur Freiheit von allem Leiden führt. Dabei berücksichtigt er alle Lebensbereiche, wie den perfekten Umgang mit dem eigenen Körper, den Mitmenschen, der Natur, dem Energiehaushalt, den Emotionen und der Steuerung der Aufmerksamkeit und des Geistes.

Auf seinen höchsten Stufen beinhaltet dieser Weg auch den Raum der geistigen Versenkung, den er als Samadhi bezeichnet. Diesen Raum unterteilt er dann noch einmal in verschiedene Unterstufen, wobei die erste dadurch charakterisiert ist, dass sich der Yogi hier durchaus noch der Welt und der Gedanken bewusst ist, aber keine qualitativen Unterschiede mehr zwischen sich und den Objekten wahrnimmt. Diese Stufe bezeichnet er als Savikalpa Samadhi.

Dann gibt es einige Samadhi Stufen, in denen der Yogi die verschiedenen Aspekten der Schöpfung immer tiefer und vollständiger durchdringt. Hieraus entspringen oft übernatürliche Fähigkeiten, die dem Yogi auch nach der Meditation zur Verfügung stehen.

Eine der höchsten Samadhi Stufen ist dann das Nirvikalpa Samadhi, in dem nur noch Bewusstsein ohne Objekte existiert. Bewusstsein ist sich hier nur noch seiner selbst gewahr und alle anderen Wahrnehmungen sind vorübergehend ausgelöscht. Durch das Nirvikalpa Samadhi wird die Persönlichkeit des Yogi tiefgreifend transformiert und er wird zu einem Quell der Liebe, der Weisheit und Inspiration für andere.

Die höchste Stufe des Samadhi ist dann das sogenannte Sahaja Samadhi. Sahaja Samadhi beschreibt den natürlichen, mühelosen Zustand dauerhafter Verwirklichung, in dem kein Unterschied mehr zwischen Meditation und Alltag besteht. Dies ist aber eigentlich kein „Zustand“, sondern ein Seinsmodus, in dem der Yogi dauerhaft in der Erkenntnis des Selbst verankert ist – auch mitten im Leben.

Erfahrungen in Sahaja Samādhi sind:

  • Ständiges müheloses Gewahrsein des Selbst („Ich bin“)
  • Keine Identifikation mehr mit Körper, Gedanken, Rollen
  • Tiefer innerer Frieden – selbst inmitten von Lärm oder Chaos
  • Liebe, Klarheit, Mitgefühl fließen mühelos
  • Handlung geschieht – aber kein „Handelnder“ ist da (nur Zeuge)

Ramana Maharshi (einer der bekanntesten Weisen des 20. Jh.) sagte dazu: „Sahaja Samādhi ist der Zustand des Jivanmukta – eines Menschen, der lebt und zugleich befreit ist.“

2. Der Pfad der Erkenntnis

Der Pfad der Erkenntnis wird in Indien vom nondualen Pfad des Jnana-Yoga oder Vedanta repräsentiert.

Vedanta behauptet, dass wir in einer Illusion leben, wenn wir denken, dass es im Universum viele verschiedene Dinge gibt, wie Menschen, Tiere, Pflanzen und leblose Materie. In Wirklichkeit, so wird uns mitgeteilt, gibt es nur eine Realität, die jedoch als Vielheit erscheint. Diese Realität, die Raum, Zeit und Kausalität transzendiert, ist immer und überall gegenwärtig, unveränderlich und vollkommen. Und sie beinhaltet alles, was wir uns zutiefst wünschen, wie z.B. Frieden und Freiheit.

Gleichzeitig behauptet Vedanta, dass wir selbst jene unveränderliche, vollkommene Realität sind, die wir auf unserer spirituellen Suche suchen. Und als Begründung dafür, warum wir den in uns innewohnenden Frieden und Freiheit nicht erfahren, wird uns gesagt, dass sich die EINE Realität, die wir sind, fälschlicherweise mit dem Körper und dem Ego identifiziert hat, der eigentlich ein Objekt der Wahrnehmung ist.  Dies ist für unseren Verstand natürlich eine harte Nuss zu knacken. Schließlich klingt diese Aussage völlig kontra-intuitiv, da wir zutiefst davon überzeugt sind, begrenzte Körperwesen zu sein.

Nun weist uns Vedanta darauf hin, dass all unsere Erfahrung sowie auch alle mystischen Erfahrungen innerhalb der illusionären Dualität stattfinden und somit auch den Gesetzmäßigkeiten von Raum, Zeit und Kausalität unterliegen. Dies bedeutet, dass jede Erfahrung, die irgendwann beginnt, auch irgendwann ein Ende finden muss. Dies würde aber zugleich bedeuten, dass selbst der großartigste und höchste Bewusstseinszustand vorübergehen muss und somit unmöglich zu dem ewigen Frieden führen kann, der bereits unser wahres Naturell ist.

Vedanta lehrt uns also, dass wir kein Handlungsproblem haben, sondern ein Identitäts-Problem und dass wir keinen höheren Bewusstseinszustand erfahren müssen, um zu werden, was wir bereits sind. Stattdessen müssen wir uns von unseren falschen Identifikationen mit dem Körper, den Emotionen und Gedanken befreien und unsere wahre Natur wieder entdecken.

Um dies zu erreichen, empfiehlt uns Vedanta den Weg der spirituellen Selbsterforschung, der der Frage nachgeht, wer wir wirklich sind.

Das Ziel dieser Übung ist aber nicht, irgendetwas Neues oder Außergewöhnliches zu erreichen, sondern vielmehr, zu erkennen, dass wir schon immer DAS waren, was wir gesucht haben. Es geht also um die Beseitigung einer Illusion bzw. eines Irrtums, und um wahre Selbst-Erkenntnis. Und das Erscheinungsbild wahrer Selbst-Erkenntnis entspricht dem oben bereits beschriebenen Zustand des Sahaja-Samadhi.

Soweit so gut.

Nun ist es so, dass Yogis, denen es gelungen ist, auf dem Pfad des Handelns tiefe Samadhi Zustände zu erfahren, manchmal außergewöhnliche und übernatürliche Fähigkeiten entwickeln, mit denen sie die Welt der Erscheinungen manipulieren können. Manche können Gedanken lesen, manche haben intuitives Wissen über andere Menschen oder Geschehnisse in der Welt. Manche können astrale Reisen unternehmen, manche sind unglaublich charismatisch und manche können noch vieles mehr. Beeindruckende Beispiele für derartige Fähigkeiten hat der große indische Yogi Yogananda in seinem Buch „Autobiografie eines Yogi“ beschrieben. Derartige Fähigkeiten sind jedoch keinerlei Beweis dafür, dass ein Yogi zu wahrer Selbst-Erkenntnis gelangt ist. Beides geht nämlich nicht automatisch Hand in Hand.

Dies zeigt sich sehr eindrucksvoll in den Persönlichkeiten spiritueller Meister, die zwar sehr charismatisch waren und denen außergewöhnliche Fähigkeiten zugesprochen wurden, die sich aber gleichzeitig hoch manipulativ, ausbeuterisch und egoistisch verhielten. Andere wiederum, die über wahre Selbst-Erkenntnis verfügten, wie z.B. der große Nisargadatta Maharaj, waren in ihrem Erscheinungsbild und Handeln völlig unauffällig.

Das gleiche gilt für mystische Erfahrungen. Mystische Erfahrungen haben immer einen Anfang und ein Ende und gehören deshalb ins Reich der Dualität. Ein Yogi kann die großartigsten mystischen Erfahrungen gemacht haben und trotzdem nicht zu wahrer Selbst-Erkenntnis vorgedungen sein. Er kann sich immer noch als Individuum fühlen, das diese Erfahrungen gemacht hat und sich somit immer noch mit dem begrenzten Körper-Ego-Geist-Komplex identifizieren, anstatt mit der EINEN Realität, die er wirklich ist. Die Erfahrung der Einheit ist nicht das Gleiche wie DAS EINE zu sein.

Die Situation ähnelt hierbei der Situation eines Träumers und eines Traums.

Wenn die Person, die ich in meinem nächtlichen Traum zu sein glaube, innerhalb des Traums eine mystische Erfahrung macht, aber danach immer noch glaubt, die Person im Traum zu sein, dann ist das nicht das gleiche wie zu begreifen, dass ich nicht die Person im Traum bin, sondern die Realität, in der der Traum erscheint.

All dies ist für unseren begrenzten Verstand schwer zu verdauen und deshalb gibt es bezüglich des spirituellen Weges auch so viele Irrtümer und Missverständnisse.

Interessant ist nun aber, was wir aus alledem für unsere spirituelle Praxis lernen können. Dies wird Inhalt des nächsten Artikels sein. 🙂